#10 VEGANE ETHIK mit Hilal Sezgin

Shownotes

Vegane Ethik: Unser heutiges Thema hat es in sich, denn unterschiedliche ethische und moralische Vorstellungen zur Ernährung führen nicht selten zu heftigen Debatten – viele Veganer:innen kennen dies von Familienfesten oder in Alltagssituationen.

Dabei herrscht über vieles eigentlich Konsens. Es ist den meisten klar, dass es nicht in Ordnung ist, einen Hund zu schlagen. Aber ist es in Ordnung, ein Schwein zu schlachten oder einer Kuh ihr Baby wegzunehmen? Da scheiden sich die Geister.

Für Veganer:innen sind ethische Aspekte die Hauptgründe für ihre Entscheidung, sich rein pflanzlich zu ernähren. Doch was bedeutet vegane Ethik? Dieser Frage geht unser Studiogast Hilal Sezgin im Gespräch mit Moderatorin Sanja Middeldorf nach. Die Autorin und Journalistin beschäftigt sich mit dem Thema Ethik und Moral im Umgang mit Tieren. Und hinterfragt vieles, was auf den ersten Blick alltäglich scheint:

• Warum sind manche Tiere Nutztiere und manche Haustiere? • Mit welchem Recht weisen Menschen Tieren Rollen zu? • Kann es rechtlich eine vollständige Gleichheit von Menschen und Tieren geben?

Um diese und andere Fragen veganer Ethik und Moral geht es in der 10. Podcast-Folge von STUDIO VEGAN.

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Transkript anzeigen

00: 00:01Sprecher: Willkommen bei Studio Vegan. Ein Podcast der BKK Provita.

00: 00:06Hilal Sezgin: Das sind doch Nutztiere. Das sagen oft Leute, die dann sagen "Ja, da darf man praktisch .... das ist normal, dass man denen die Milch abnimmt. Aber tatsächlich haben wir Menschen die ja zu Nutztieren erklärt, Das ist etwas, was wir eben zuweisen. Und als Veganer:in fragen wir jetzt: "Entschuldigung, aber was gibt uns das Recht, von manchen Tieren zu sagen 'Das sind Nutztiere?'

00: 00:23Hilal Sezgin: Bei diesen Fällen ist es sogar beides. Also es ist moralisch besser, keine Tiere zu essen und es ist für die Menschheit auch besser. Wir müssen nur einfach ein bisschen langfristiger denken.

00: 00:32Sanja Middeldorf: Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt und lebt heute als freie Autorin in der Lüneburger Heide. Sie schreibt Romane und Sachbücher. Ihre Themen sind vor allem Philosophie, Tierethik und Tierrechte. So. Hallo Hilal, schön, dass du da bist. Wir beide sprechen ja heute über vegane Ethik. Und genau dann geht es darum: Was ist das überhaupt? Warum wird darüber so viel gesprochen? Und da bist du ja die Expertin für uns. Ich würde sagen, wir starten direkt einfach mal und vielleicht kannst Du uns erklären, welche Motive es überhaupt gibt für eine vegane Ernährung und was vielleicht auch dein Motiv gewesen ist.

00: 01:08Hilal Sezgin: Für mich war es so, ich bin schon ganz lange Vegetarierin geworden gewesen, bevor ich Veganerin wurde. Und das kam eigentlich durch so einen klassischen Moment, wo man versteht, dass das Tier auch ein Individuum ist, das leben will. Also ich war irgendwie zwölf oder 13, habe auf der Weide Kühe gezeichnet und habe mich den ganzen Nachmittag intensiv mit diesen Kühen befasst und man findet Kühe ja schön so: ' Oh, da ist eine Kuh, guck mal, wie die da liegt und guckt und wiederkäut und so' und dann - das war ein paar Stunden - bin ich nach Hause gekommen zu meiner Mutter. "Mama, das ist ja, das sind ja die, die wir essen. Ich will nicht mehr. Ich will kein Fleisch mehr essen." Und meine Mutter hat zum Glück auch mitgemacht. Und mein Vater auch. Das war in den 80er Jahren. Ich bin jetzt 52 und Veganerin wurde ich erst, als ich aufs Land gezogen bin vor 15 Jahren und da Biohöfe besucht hab, von denen ich vorher schon Produkte gekauft hatte in der Stadt. Und ich dachte halt immer, die Biohöfe wären - also Massentierhaltung ist schlimm - und Biohöfe sind dann gut, dachte ich. Und dann dachte ich, da empfängt mich so eine Idylle. Aber tatsächlich war das eben auch schlimm. Also ich habe dann eben so Kühe gehört, die nach ihren Kälbern gerufen haben. Ich habe die Kälber in ihren Hütten gesehen. Ich habe auch eine Zeit lang - viele Jahre lang - so ausgediente Legehennen aufgenommen aus einer Bio-Freilandfarm und wenn man das so in der Realität gesehen hat ... also klar, es gibt so ein paar hübsche Fotos und vielleicht auch mal Ausnahmen ... aber der Regelfall ist einfach wirklich schlimm. Das ist auch Massentierhaltung. Und da wurde mir klar, dass das ja immer Ausbeutung ist. Und so wurde ich zur Veganerin und ich denke, das ist eigentlich so der Kern. Also es gibt auch Leute, die aus gesundheitlichen Gründen vegan werden oder es ist auch ein Mix aus Gründen. Für das vegan spricht ja vieles, auch Klimaschutz, oder auch, dass man mit den Nahrungsmitteln, die den Menschen zur Verfügung stehen, irgendwie sparsam umgehen will, dass man die nicht vergeudet, die man die Tröge gibt. Aber der Hauptgrund, glaube ich, für die meisten, ist dann doch, dass man sagt, Tiere sind auch Individuem. Wir dürfen ihnen das nicht einfach wegnehmen, nicht ihr Leben, nicht ihre Freiheit, nicht ihre Kinder, nicht ihre Milch, nicht ihr Blut, ihre Eier, was auch immer.

00: 03:04Sanja Middeldorf: Hmm. Und das, was du jetzt gerade gesagt hast, das ist ja eigentlich auch Ethik. Also es wird da ja immer, wenn es um vegan geht, auch viel über Ethik gesprochen. Aber diese Podcast Episode ist ja auch für Hörer:innen, die sich jetzt noch nicht so gut auskennen mit dem Thema. Vielleicht kannst du auch mal kurz erklären, was überhaupt Ethik ist, was man darunter versteht. Es gibt ja auch immer diesen Unterschied zwischen Moral und Ethik, dass man das vielleicht noch mal so abgrenzt.

00: 03:30Hilal Sezgin: Ja, Moral und Ethik, das ist ... vor allem Philosoph:innen grenzen das gerne ab. Also da gibt es manche Schulen, die machen so rum oder machen so rum. Ich würde es jetzt gleichbedeutend verwenden und ich würde Ethik und Moral für etwas, für ein Nachdenken verwenden, darüber, wie wir mit anderen umgehen sollten. Und es ist eigentlich eine Sache, das kann man sehr abstrakt betreiben, als philosophische Ethik oder philosophisch als Moralphilosophie. Man kann es aber auch ganz praktisch betreiben und wir tun es alle, jeden Tag. Also Menschen sind sozusagen moralische Tiere, und manche anderen Tiere sind vielleicht auch ein bisschen moralisch, aber jedenfalls, wir denken ja andauernd drüber nach. War das jetzt richtig? Was schulde ich dem? Was ist gerecht? Das fängt schon dabei an: Ist das okay, wenn ich jetzt mehr von dem Kuchen esse, weil meine Partnerin später nach Hause kommt und dann .... oder so was. Ja, das ist eine banale Frage. Oder aber auch: Gott, ich freue mich jetzt hier, dass meine Küche so schön sauber ist und die Leute, die gerade vor den Krieg fliehen, die haben nicht mal ein Bett oder so was. Wie verhält sich denn mein Glück zum Glück anderer oder zum Pech anderer? Oder eben auch die Fragen: Welche Folgen hat mein Leben für andere? Für welche ganz in der Nähe? Also wenn ich denen was wegnehme, wenn ich sie verletze, wenn ich sie, was ich hoffentlich nicht tue, aber schlage oder so was in der Art, aber auch für entfernte andere, also Menschen in anderen Ländern. Die Frage ist, wo steht in den Klamotten? Ist das in Ordnung, dass ich mir billig Klamotten kaufe, wenn andere Menschen dafür quasi sklavenähnlich irgendwo in dunklen Hallen sitzen? Das sind alles moralische Fragen. Und moralische Fragen gibt es nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern eben auch gegenüber anderen Tieren. Insofern wir ja alle wissen, auch wenn wir keine Vegetarier:innen sind, dass - wie soll ich sagen - was man Tieren antut, ist nicht dasselbe wie das, was man unbelebten Gegenständen antut. Also zum Beispiel, ob ich einen Stuhl kaputt haue, da sagt man: Spinnst du? Hast du dir wehgetan? Das war ein teurer Stuhl. Ja, okay. Aber bei Tieren sagt man: "Wie, Du hast einen Hund getreten? Das tut doch dem Hund weh." Bei der Moral geht es um den anderen als solchen, nehme ich Rücksicht auf einen anderen, weil der das eben empfindet, weil der ein eigenes Individuum ist. Weil er ein eigenes Leben hat, in das ich eingreife. Das ist eben was ganz anderes als bei einem Stuhl, wo ich nur praktische Überlegungen habe.

00: 05:39Sanja Middeldorf: Und wenn man das jetzt so auf die vegane Ernährung bezieht, was bedeutet Ethik da? Also das ist ja eigentlich, dass man irgendwie mit den Tieren mitfühlt und für die auch eben sieht: okay, das sind eigentlich Individuen, oder was würdest du sagen?

00: 05:55Hilal Sezgin: Ja, genau. Also ich fange mal so an, es gibt ja so eine Rede, dass man sagt, so Kühe und so, das sind doch Nutztiere. Das sagen oft Leute, die dann sagen ja, da darf man praktisch .... das ist normal, dass man die Milch abnimmt. Aber tatsächlich haben die Menschen die ja zu Nutztieren erklärt, das ist etwas, was wir ihnen zuweisen. Und als Veganer:in fragen wir: Entschuldigung, aber was gibt uns das Recht, von manchen Tieren zu sagen 'Das sind Nutztiere?' Was gibt uns das Recht, zum Beispiel über manche Kaninchen zu sagen 'Ja, die müssen für den Tierversuch jetzt ihr Leben im Käfig fristen und müssen irgendwie sich das Gift ins Auge sprühen lassen.' Was gibt uns das Recht, andere Kaninchen in Käfige zu setzen und zu sagen 'Du bist mein Kuscheltier?' Vielleicht will das gar nicht kuscheln. Warum mache ich mit Tieren so viele Dinge, die ich mit Menschen nicht machen würde? Also zum Beispiel sagen Menschen oft 'Ja, aber schmeckt halt so gut.' Das ist doch kein Grund. Ich meine, ich würde jetzt auch deinen Arm nicht abschneiden und grillen, weil ich sage 'ich denke der schmeckt total gut.' Ja, warum soll denn das jetzt beim Menschen .... klar, dass wir Unterschiede zwischen Mensch und anderen Tieren machen, ist einerseits verständlich, aber die dürfen nicht so absolut, nicht so kategorisch sein. Wir haben beim Menschen ein nahezu absolutes Tötungsverbot. Klar, du sollst nicht töten außer Notwehr oder in solchen Situationen. Bei Tieren denken wir 'Och naja, also sobald ich da Appetit drauf habe oder sobald ich was erforschen will oder irgend so was oder ein Haus bauen will.... Die Menschen nehmen sich das Recht raus, immer wenn sie etwas wollen, ihr Interesse über das der Tiere zu setzen. Und das stellen wir ethisch sozusagen in Frage, dafür gibt es eigentlich keine Gründe. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, der alles machen darf und nur was er so gnädig erlaubt, dürfen die Tiere haben. Wir sind Mitbewohner einer gemeinsamen Welt und da müssen wir eben auch Rücksicht nehmen und überlegen, was dürfen wir und was schulden mit den anderen aber auch.

00: 07:32Sanja Middeldorf: Was meinst du denn? Warum ist jetzt in den meisten westlichen Ländern die Ethik oder das, was du gerade angesprochen hast, der häufigst genannte Beweggrund für Veganer:innen? Also das ist ja wirklich das, was immer, wenn man sich mal Studien anschaut, so auf Platz eins ist, und Umfragen. Was meinst du, woran liegt das?

00: 07:48Hilal Sezgin: Ich bin mir nicht mal sicher, ob es nur in den westlichen Ländern so ist. Also natürlich gibt es so eine kulturelle Ausformung von Moral und Ethik usw. und kulturelle Praktiken variieren. Aber das Verrückte an dem Veganismus ist oder in der Tierrechtsbewegung, es gibt sie eigentlich weltweit, natürlich nicht in der Ausprägung unbedingt überall. Aber diese Einsicht, dass andere Tiere eben auch jemand sind, das sage ich hier als Würdigung, Tiere sind nicht etwas, sondern jemand und dass sie leiden und dass man das eigentlich nicht will, das haben auch Menschen anderswo. Und warum ist das jetzt so stark geworden? Also ich glaube, es ist einfach so, dass uns langsam klar wird, wir brauchen Tiere einfach nicht mehr in dem Maße, in dem frühere Bevölkerungen die oft als Nahrungsmittel brauchten. Jäger und Sammler brauchten sie sowieso, aber auch spätere brauchten sie. Und dann, die moralischen Empfindlichkeiten generell wurden größer. Zum Beispiel man hat begonnen, unter Menschen die Todesstrafe abzulehnen, dann die Folter abzulehnen. In früheren Jahrhunderten kamen Menschen zu öffentlichen Hinrichtungen und haben sich das gerne angeschaut, wie andere Menschen getötet wurden, das können wir uns nicht mehr vorstellen. Also die Gewaltfreiheit ist immer mehr so Teil unseres Selbstverständnisses geworden und unserer moralischen Ansprüche und auch der Ansprüche an eine Gesellschaft. Blutrünstigkeit wird nach hinten gedrängt. Die Schlachthöfe wurden zuerst etwas unsichtbarer gemacht und sind dann immer mehr aus den Städten heraus verlagert worden, weil die Leute wollten es eigentlich auch nicht mehr sehen. Man will nicht mehr Blut und Schreie mitten in der Innenstadt oder so was, das will man nicht mehr. Und ja, also die moralische Sensibilität ist gestiegen. Und dann kann man natürlich sagen, gerade dadurch, dass wir die Tiere so industriell auch weggesperrt haben und die meisten von uns sich das eben nicht täglich anschauen, hatten wir auch so eine gewisse - und das ist was Positives - diese Normalisierung verloren. Was man jeden Tag macht und was der Vater macht, die Mutter macht, das hinterfragt man nicht so sehr. Aber wenn man dann von außen mit draufgekommen ist: 'Oh Gott, warum machen wir das eigentlich als Gesellschaft? Wie kann man denn zum Beispiel so ein Kalb einer Mutter wegnehmen?' Wenn man das immer gesehen hat, denkt man, das ist halt normal, aber wenn man so draußen draufguckt, dann merkt man 'Moment mal die Mutterkuh, die schreit ja voll und das Kalb ja auch. Und wieso muss ich da mit drei Leuten dazwischen gehen und Eisenstangen und das Kalb wegnehmen? Das ist doch irgendwie .... dann sieht man das irgendwie. Also gerade durch die Entfernung von den Tieren ist dann eben auch die Möglichkeit einer neuen Nähe ein neues Nachdenken gekommen, denke ich.

00: 10:17Sanja Middeldorf: Du hast ja gerade auch schon mal dieses Beispiel mit dem Kalb genannt. Vielleicht können wir da noch mal ins Detail gehen. Also was würdest du denn sagen, deiner Meinung nach, wieso ist es denn ethisch verwerflich, tierische Produkte zu konsumieren?

00: 10:30Hilal Sezgin: Also bei Fleisch zum Beispiel ist das, finde ich, noch ganz am klarsten. Na ja, also Fleisch ist totes Tier. Deswegen finde ich es auch ein bisschen irre, da noch irgendwelche Label draufzukleben. Angeblich war das Tier vorher glücklich, war es auch nicht, aber es ist tot und es ist nicht freiwillig gestorben. Es ist gewaltsam getötet worden. Okay, jetzt aber nehmen wir die Milch. Was mir als Vegetarierin lange nicht klar war, ist, dass die Milch, die wir benutzen, dem Kalb tatsächlich weggenommen wurde. Und damit das Kalb den Euter nicht leer saugt, wird auch der Mutter das Kalb weggenommen und umgekehrt. Also man trennt Kälber und Mütter meistens schon direkt nach der Geburt, dann kommt das Kalb irgendwo separat hin und bekommt so Ersatzmilch, die der Mensch eben abmessen kann, so aus dem Eimer, und den Euter der Mutter melkt der Mensch ab. Ich finde so ein bisschen wir verstehen es so als Muttermilch oder überhaupt, die Kuh so als Nährerin, das ist irgendwie fast so idealisiert oder fast romantisch oder so, als ob es eine Kooperation wäre. Und tatsächlich ist das so brachial, weil die Muttergefühle, die eine Kuh für ihr Kalb hat. Also ich denke, Muttergefühle - manchmal sind es auch Elterngefühle, je nach Tierart - aber sagen wir mal, die Gefühle einer Mutter für ihr Kind sind doch die Stärksten oder mit die Stärksten und auch die Besten, also im Sinne von für ein anderes, die schaffen Verbindungen, die sind schon protomoralisch eigentlich, also sozusagen Vorläufer von Moral. Die rühren uns an, wenn wir das irgendwo sehen. So Bilder von Tiermüttern mit ihren Kindern. Und diese Verbindung unterbrechen wir, unterbinden wir, zerstören wir. Also im Nachhinein ist mir das wirklich ein bisschen rätselhaft, warum ich das nicht vorher gemerkt habe, dass eigentlich gerade dieses Kalb- und Kuh-Verhältnis zu stören für die Milch besonders schlimm ist. Wobei das viele Verbraucher:innen glaube ich auch einfach nicht wissen. Darüber wird nicht so oft öffentlich berichtet. Dann hört man auch manchmal so von Biohöfen, dass es so Mutterkuhhaltung gibt. Dann muss man sehr genau hinschauen, zum Beispiel die Ammenhaltung, das ist eine Kuh mit, sagen wir mal, fünf Kälbern. Das heißt aber, vier anderen Mutterkühen wurden ihre Kälber trotzdem weggenommen. Ja, also das ist nicht so schön. Das sieht dann zwar in dem Moment bisschen netter aus, weil die Kälber immerhin im Stroh bei einer erwachsenen Kuh stehen, aber da stehen trotzdem irgendwo anders vier Mütter, die denken 'Ich habe doch gerade geboren, wo ist mein Kind?'

00: 12:56Sanja Middeldorf: Ich meine, man kennt das ja auch. Das sagen ja auch immer viele Mütter, mit denen man spricht, wie stark diese Bindung ist, das kann man ja eigentlich dann übertragen. Das, was du gerade beschrieben hast.

00: 13:06Hilal Sezgin: Ja, ich denke schon. Wir sehen uns ja wesentlich ähnlich. Also wir sind ja auch Säugetiere und das, was wir empfinden, das baut auch auf dem auf. Natürlich variiert es, das menschliche Leben variiert das dann noch mal stark, aber ich denke gerade so diese sehr tiefreichende Liebe für die Kinder, diese Sorge auch, ja, die man übrigens auch ... wenn meine Katzen länger draußen sind, habe ich die auch schon. Da beginnt es schon. Ja, diese Sorge für die einem Anvertrauten, für die Nahen, das ist ein ganz tiefreichendes Gefühl. Und das hat ganz starke biologische Wurzeln, wie überhaupt viele Sachen bei Tieren gar nicht so anders sind oder so fremd sind. Wir haben vieles gemeinsam, weil wir ja auch eine gemeinsame Entstehungsgeschichte haben, evolutionär und einen sehr verwandten Körper und dadurch natürlich auch verwandte Lebensweisen und Gefühle.

00: 13:53Sanja Middeldorf: Du hast ja gerade auch die Milch angesprochen. Was ist denn zum Beispiel mit Eiern? Also was sagst du, ist da ethisch verwerflich dran, die zu konsumieren?

00: 14:03Hilal Sezgin: Ähm, bei Eiern ist es so, dass die Hühner, die wir heute haben bzw. auch frühereHühner, aber die heutigen Hühner sind ja ganz stark so gezüchtet, dass sie sagen wir mal 300 bis 320 Eier pro Jahr legen, während jetzt ein Wildvogel, also der Vorläufer des Huhns, würde vielleicht 15 Eier legen und würde sich draufsetzen und die ausbrüten. Das schafft so ein Körper. Aber wie wir wissen, auch eine Geburt ist immer auch anstrengend und Eierlegen ist auch anstrengend. Zum Beispiel das Kalzium für die Eihülle muss erst mal mobilisiert werden, wird aus den Knochen mobilisiert und muss später wieder eingelagert werden und so. Das sind sehr anstrengende Vorgänge für einen Körper. Und wir haben das jetzt bei den Hühnern völlig ohne Rücksicht auf Verluste im wahrsten Sinne so organisiert, dass sie wie am Fließband Eier legen. Die haben also wirklich kaputte Skelette. Die haben Legeapparate - die Legedamen haben ja nicht Gebärmutter usw. Aber das ist alles oft entzündet, völlig überlastet, weil da ein Ei nach dem anderen rausgeschoben wird. Ob Eierlegen selber weh tut, wurde übrigens noch nicht erforscht. Ich nehme an, dass es, weil das muss ja irgendwie doch durch eine kleine Öffnung, die erweitert wird .... aber gut. Es ist aber für den Körper ... macht den Körper völlig fertig. Und die Hühner leben auch nicht gut. Aber ich möchte auf was anderes noch zu sprechen kommen, was man so gar nicht so oft hört. Auch wenn wir da an die Küken denken, den Küken nehmen wir auch die Mütter weg, die Küken im ganzen Hühnerbereich, die werden elektrisch ausgebrütet in so Brutschränken sozusagen, also mit so Schubladen, wo ganz viele Eier eingelegt werden, dann werden die elektrisch bewärmt, dann purzeln die, also irgendwann wollen die dann raus und da werden die Schubladen geöffnet, dann purzeln die auf so ein Fließband, dann werden die aussortiert. Manche sind da noch nicht geschlüpft, die kommen dann weg, andere sind am Vortag schon geschlüpft, die kommen weg. Also es gibt eine ganz große Sterberate bei diesen Küken und dann kommen die Küken in so Aufzuchthallen. Dabei werden auch bis zu 10 % Sterberate mit einkalkuliert. Aber die, die überleben, die laufen so piepsend rum. Das sieht man manchmal auch und ist sehr süß. Und das Schreckliche ist, die suchen ihre Mütter ja, weil das ist ja so genetisch angelegt, dass sie ihre Mütter suchen. Die Glucke führt sie zum Wasser, führt sie zu Körnern usw. Also die sind ja ganz rührende Mütter auch wieder. Diese Küken müssen ohne ihre Mütter auskommen. Und deswegen gibt es auch in den ersten Tagen ganz viele Hungertote dadurch, dass sie gar nicht das industriell angebotene Futter finden. Also da gibt es dann auch wieder so Maßnahmen. Ich finde das so grauenhaft, dass wir 800 Millionen Hühner pro Jahr töten in Deutschland und nehmen wir mal 1 Milliarde oder sind es halt nur 800 Millionen? Die wachsen alle so auf. Es ist grauenhaft.

00: 16:42Sanja Middeldorf: Ja, total. Du hast ja gerade auch erzählt, dass du früher zum Beispiel immer dachtest, dass Bio auf jeden Fall besser ist. Aber gibt es denn eine Haltungsart, die es ethisch vertretbar machen würde, dass man tierische Produkte konsumiert? Also was würdest du sagen?

00: 16:57Hilal Sezgin: Nein, ich denke, das kann es nicht geben. Ich habe auch lange überlegt, ob es da nicht irgendwie einen Ausweg gibt. Aber eigentlich, wenn man sich klarmacht, all diese Produkte, die wir von Tieren nutzen wollen, die werden ja von ihren Körpern unter großen Mühen hergestellt. Das ist ja nichts, was von dem Körper einfach so abfällt. Also Dung zum Beispiel, Mist, Kot, den glaub ich schon. Den könnte man, wenn die Tiere gut leben, den darf man gerne nehmen, weil der ist ja per definitionem etwas, was die Tiere loswerden wollen, das sind Exkremente. Und alles andere machen sie aber unter großem Aufwand für ihre Kinder oder für bestimmte Phasen im biologischen Prozess usw. Und die kann man nicht wegnehmen, ohne dass man irgendwo gewaltsam eingreifen muss oder sie belasten muss. Also jetzt mal so ganz allgemein gesagt, finde ich, wenn man sich das so überlegt, wird es schon klar. Etwas weniger allgemein gesagt ist es so, man könnte jetzt eine, sagen wir mal, eine Kuhherde haben, die würde man nicht künstlich besamen, man würde die Kälber bei der Mutter lassen und man würde jeden Tag sagen wir mal ein Glas voll abnehmen. Es würde jedes Jahr ein Kalb mehr werden. Man würde sie jetzt nicht töten. Man hätte dann irgendwann, weiß ich nicht, die werden ja 20 Jahre alt, dann haben sie vielleicht 20 oder keine Ahnung wie viel Kälber. Also wir haben eine Herde von 20 Kühen und wir haben jeden Tag ein Glas Milch. Das würde sich nicht ökonomisch rentieren. Oder auch wenn man so mal Hühner hat, und man würde dann irgendwo mal über ein Nest stolpern oder Vögel, dann nimmt man mal eins raus. Also ich würde es nicht machen. Ich finde es auch nicht okay, aber ich würde es jetzt auch nicht sagen, dass es so ganz, ganz.... es gibt menschliche Gesellschaften, die leben so. Aber das ist ja ökonomisch nicht rentabel. Also um in irgendeiner Form irgendwie zur Ernährung einer großen Bevölkerung relevante Mengen zu produzieren, muss man das anders organisieren und dann geht es auch nicht. Ja, und diese ganzen Maßnahmen, mit denen wir versuchen, das zu kaschieren, also auch diese Beschäftigungsmaßnahmen für Schweine, ich meine, so ein bisschen Stroh ist kein Ersatz für ein richtiges Leben. Und dann feiern wir das, dass sie schon betäubt werden. Also schon die Betäubung vor einer Kastration ist schon ein Riesenschritt im Tierschutzgesetz. Da kann man mal sehen, wie verkommen eigentlich unsere Situation ist. Oder dass Legehennen nicht mehr die Schnäbel abgeknipst werden. Das hat so lange gedauert, das zu erstreiten. Und jetzt feiern wir, dass ein Huhn sein Schnabel behalten darf. Das irgendwie absurde Situation.

00: 19:16Sanja Middeldorf: Also so makaber.

00: 19:17Hilal Sezgin: Und ich glaube nicht, dass wir ... wir können einfach nicht dahin kommen, dass ... Ja, wirklich, es ist eine Ausbeutung anderer Körper und anderer Leben und die kann nicht nett organisiert sein.

00: 19:28Sanja Middeldorf: Ja, finde ich auch. Es klingt halt, wenn man sich das jetzt mal so von Dir nochmal anhört, denkt man sich so: hm, irgendwie nee, kann das nicht sein. Wär mir also, wenn es jetzt so um Ethik und vegane Ernährung geht, denn dann spricht man ja auch oft von Tierrechten. Was ist genau damit gemeint? Also haben Tiere genauso Rechte wie Menschen oder gibt es da Unterschiede? Vielleicht kannst du das noch mal für Hörer:innen kurz erklären was es damit auf sich hat.

00: 19:55Hilal Sezgin: Sollte man erst mal unterscheiden zwischen sozusagen Recht auf der moralischen Ebene und auf der politischen. Also moralisch wenn wir sagen, das sollte man nicht tun oder das ist doch verwerflich. Das ist ja das, worüber wir gerade so streiten, eigentlich darf man Tiere töten, um sie zu essen. Würde man von Tierrechten sprechen, weil sie im Rahmen solcher moralischer Überlegungen bestehen, dass man sagt: Nein, genauso wie wir einem Menschen sein Leben nicht einfach wegnehmen dürfen, so dürfen wir es bei Tieren auch nicht - wenn wir eine andere Möglichkeit haben ... also wenn wir .... willkürlich oder absichtlich dürfen wir einfach niemanden töten. Das ist auf der moralischen Ebene ... und dann kämpfen wir Tierrechtler dafür, dass wir diese moralischen Rechte erst mal den anderen Leuten plausibel machen, dass wir andere Leute davon überzeugen können: 'Hey, wir dürfen Tiere nicht einfach zu Nutztieren deklarieren, sondern sie sind auch eigene Individuen mit Rechten,' und dass die dann auch politisch verankert werden. Also letztlich schwebt uns schon so was ähnliches vor wie Grundrechte, menschliche Grundrechte, wo das dann eben auch gesetzlich verankert wird, so was wie Unversehrtheit oder das Recht auf Freiheit, und die auch über das jetzige Tierschutzgesetz hinausgehen würden, weil das Tierschutzgesetz erlaubt ja fast alles mit Tieren, weil da werden ja nur so ein paar kleine Spitzen abgeschliffen. Wie gesagt, der Schnabel darf nicht abgeknipst werden. Das ist dann was Tolles fürs Tierschutzgesetz. So was meinen wir nicht, wir meinen schon so was wie Grundrechte. Und dann gibt es übrigens auch immer mehr Theoretiker:innen und Aktivist:innen, die auch wirklich politische Rechte in dem Sinne wollen, dass sie sagen 'Ja, im Moment, es gibt doch viele Tiere, mit denen leben wir. Katzen, Hunde, aber auch letztlich die Kühe und die Hühner. Die haben wir Menschen in unsere Gesellschaft reingeholt. Haben wir denn nicht auch die Pflicht, die Gesellschaft so einzurichten, dass sie für sie in Ordnung ist, dass sie für sie gerecht ist?' Also die wollen so was wie eine demokratische Einbeziehung von Tieren, was nicht so absurd ist, wie es sich zunächst anhört, weil ich meine, auch Kinder oder schwer geistig eingeschränkte Menschen haben ja das Recht, dass ihre Interessen gehört werden und man organisiert dann etwas, das ihre Interessen von anderen artikuliert. So was könnte man sich mit Tieren auch denken. Also diese verschiedenen Ebenen von Tierrechten gibt es. Aber letztlich ist wirklich so ein moralisches Konzept gemeint. Ein Individuum ist nicht der Willkür anderer einfach ausgeliefert. Oder man darf nicht einfach sagen 'Du bist dafür da oder du gehörst mir', das gehört auch dazu. Wie kann denn ein lebendes Wesen das Eigentum von jemand sein, einfach so verschachert werden oder getötet werden, sondern es hat eigene Rechte.

00: 22:18Sanja Middeldorf: Hm. Du hast ja gerade schon mal diese politischen Rechte angesprochen, um das noch mal für Hörer:innen festzuhalten. Also Tiere haben aber auf jeden Fall nicht die gleichen Rechte wie Menschen.

00: 22:30Hilal Sezgin: Das ist eine interessante Frage, weil man würde ja sagen, wenn wir an die französische Revolution denken, wie heißt das? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Freiheit. Ja, Tiere haben ein Recht auf Freiheit, weil sie können ihr Leben nur leben in Freiheit. Man kann Tieren nicht im Stall einen Fernseher hinstellen, damit sie sich anschauen, wie ein Wald aussieht, sondern, wenn sie jetzt Waldtiere sind, dann wollen sie auch rumlaufen, erforschen, ihre Nahrung selber suchen. Freiheit gehört dazu. Brüderlichkeit - da würde man vielleicht heute eher Geschwisterlichkeit sagen - Ja, wir sind verwandt. Es gibt auch so was wie Solidarität. Es gibt auch speziesübergreifende Freundschaften. Ja, wir sind gemeinsam auf dieser Welt. Dieses Gefühl gehört auch dazu. So was ist jetzt mit der Gleichheit? Und ich glaube, das ist noch eine etwas unabgeschlossene Frage innerhalb der Tierethik, und überhaupt im Nachdenken über Tiere, ob wir wirklich auf eine vollständige Gleichheit hinaus wollen oder können. Ich glaube, momentan sind wir noch nicht da und ich würde mich auch schwer tun, das jetzt so kategorisch zu fordern. Es ist ja so, momentan leben wir in einer Gesellschaft, die total starke, also kategorische, riesige Unterschiede zwischen Menschen und Tieren macht. Also eine riesen hierarchische Lücke klafft da. Das nennt man Speziesismus, so was wie Rassismus oder Sexismus. Wir benachteiligen die Tiere ohne Ende, weil wir sagen: Sind doch nur Tiere. Also von diesem ganz großen Speziesismus, glaube ich, können wir nicht in einem Sprung oder innerhalb einer Generation, auch nicht in zweien, vermutlich zu einer vollständigen Gleichheit kommen, sondern ich denke, es geht eher darum, dass wir diesen krassen Speziesismus abbauen, diese krasse Ausbeutung, diese krasse Unterwerfung. Und vielleicht uns bei einem milden Speziesismus erst mal einpendeln. Also dass wir sagen, in der Notsituation zum Beispiel, wer würde da nicht zuerst den Menschen helfen und nicht einem Tier. Also es ist sehr plausibel, das so zu handhaben. Wer will sich da hinstellen, sagen Nee, das darf nicht sein, die sind absolut gleich. Das ist also noch so ein Graugebiet und ich würde aber sagen, das ist bei vielen moralischen politischen Fragen so, wir können noch nicht sehen, wie alles perfekt wäre. Wir sehen nicht, wie es absolut gerecht wäre, wie es ideal wäre, geschweige denn, dass wir wüssten, wie wir da hinkommen sollen. Aber wir sehen die großen Ungerechtigkeiten, die direkt vor uns sind, die sehen wir doch recht klar und die müssen wir benennen und die können wir erst mal abschaffen. Also weg mit diesem schrecklichen Speziesismus. Und ob wir dann wirklich bei einem kompletten Egalitarismus, also Gleichheit rauskommen und wann und wie? Keine Ahnung, müssen wir schauen.

00: 24:45Sanja Middeldorf: Also geht es erst mal darum, die Lücke dazwischen kleiner zu machen.

00: 24:49Hilal Sezgin: Ja genau. Also diese Sachen. Man kann sich ja ganz grob sagen, auch bei vielen Sachen, was man seinen Kindern nicht erzählen kann, also das - Entschuldigung, ich kommme da nur gerade drauf, weil ich das auch aus dem persönlichen Kontext kenne, dass auch wirklich manchmal Eltern Kinder anlügen, Wenn die Kinder fragen, wieso sieht das Hühnchen aus wie ein Huhn? Ja, das haben die so nachgebastelt oder so. Das gibt es wirklich, dass Eltern so Sachen sagen oder dass man Videos, wie es in Ställen und Schlachthöfen zugeht, dass man die mit Triggerwarnung versehen muss und auch Kindern nicht zumuten würde. Also Sachen, die sind so grauenhaft, die dürfen nicht zu unserem Alltag gehören, die dürfen nicht an der Grundlage unseres Essens und Lebens usw. sein. Das sind die ganz krassen Ungerechtigkeiten.

00: 25:30Sanja Middeldorf: Kurz zu diesen Ungerechtigkeiten. Das nennt man ja auch Karnismus, dass man Nutz- und Haustiere unterscheidet. Kannst du das einmal kurz erklären, was das ist? Also damit Hörer:innen vielleicht auch beim nächsten Mal mit diesem Begriff was anfangen können, wenn das auf den Tisch kommt?

00: 25:44Hilal Sezgin: Ja, Karnismus ist vor allem ein Konzept von der Psychologin Melanie Joy. Karnismus ist ein, ich sage mal, ideologisches System, nachdem manche Tiere vermeintlich ganz natürlich zum Essen eingeteilt sind und das ist zum Beispiel so: Fleischesser sagen ja, Veganer:innen haben so eine krasse Meinung und sie denken dann, sie selber hätten keine. Doch zu glauben, dass Fleischessen okay ist, ist auch eine Meinung. Es ist nur die Mehrheitsmeinung. Und jetzt kann man sagen, in einer karnistischen Gesellschaft sieht man das bloß nicht, dass es auch eine Meinung oder eine Ideologie ist, weil es eben dem entspricht. Insgesamt würde ich aber sagen, dass Karnismus so eine Unterform von dem ist, was ich Speziesismus genannt habe. Also wir unterwerfen Tiere auf verschiedenen Ebenen und seit Jahrhunderten - eben auch in der Biologie, auch in der Philosophie, auch in der Theologie, von der Kirche usw. wurden so vermeintliche Begründungen produziert, oder ganze Bücher drüber geschrieben, warum Tiere weniger wert sind und warum wir die tollen Vernunftwesen sind und die können wir ja missachten und so was. Also das ist jetzt ein bisschen zugespitzt gesagt, so plump war es dann doch nicht. Aber manchmal berührt es einen peinlich, wenn man es liest. Und das ist eben so ein Rechtfertigungssystem, nach dem wir Tiere uns unterwerfen dürfen. Und das ist sozusagen die bisschen größere Menge, Speziesismus und Karnismus von Fleischessen - also ja, es ist Carne - das ist dann die Idee, dass die Tiere zum Essen da sind.

00: 27:06Sanja Middeldorf: Und dann gibt es ja diese Unterscheidung in: diese Tiere sind zum Essen da und diese sind unsere Haustiere.

00: 27:13Hilal Sezgin: Ja, das ist sogar noch komischer. Also komisch. Aber wir haben viele dieser Unterscheidungen und ich denke da immer, das ist eigentlich ein Merkmal einer Sklavenhalter:innengesellschaft, dass nämlich die, die in einer Hierarchie oben sind, die die Ausbeuter:innen sind, die sagen, wozu die anderen da sind. Und ich habe ja vorhin schon von den Kaninchen gesprochen. Ein Kaninchen kann im Laufe seines Lebens mehrere Sachen sein. Es kann zum Beispiel, das war früher ganz üblich, zuerst Käfigtier, wurde gemocht und dann irgendwann ist es Sonntagsbraten. Oder es liegt nicht an der Spezies. Kaninchen werden auch viel in Tierversuchen eingesetzt. Auch Hunde hat man früher teils gegessen und aber auch als Arbeitstiere verwendet. Die haben lange so Wagen gezogen und solche Sachen. Und es geht so hin und her und der Mensch schiebt die so hin und her. Ein aktuelles, ganz anderes Beispiel Katzen. Es wird ja viel darüber gesprochen, dass Katzen auch viele Vögel töten. Und überhaupt, das es auch so unangenehm ist, wenn Katzen jetzt Mäuse ins Haus bringen und die sind ja irgendwie Räuber und es ist scheußlich mit anzusehen. Das ist nicht so, wie wir uns vorstellen, wie man leben sollte. Aber da muss man auch sagen, die Menschheit hat wirklich Jahrtausende lang Katzen zu sich ins Haus gelockt, damit sie Mäuse töten. Das war einfach unsere Idee von Mäusebekämpfung. Und auch da wieder: Der Mensch stellt sich jetzt hin, sagt 'Nee, Moment mal, das finde ich jetzt eigentlich doch nicht so toll. Ich bin jetzt doch gegen dieses Mäusetöten und dann machen die Menschen nicht etwa eine Kampagne gegen Rattengift, wo ich sofort dabei wäre, sondern regen sich über Katzen auf. Also das ist immer so die Logik: Der Mensch steht da und zeigt mit dem Finger und teilt ein. Das kann sehr variieren, was er sagt. Gestern Mäusebekämpfer, heute 'Bitte schone die Mäuse.' Gestern Kuscheltier, heute Sonntagsbraten. Das ist Willkür.

00: 28:51Sanja Middeldorf: Du hast ja auch eben schon mal darüber gesprochen, dass Eltern zum Beispiel ihren Kindern einfach keine Videos zeigen oder so. Glaubst du denn, dass es eigentlich für alle Menschen so ist, dass sie, wenn sie wissen, woher das Fleisch, die Milch, die Eier kommen, wenn sie das wissen, das eigentlich für sie auch nicht ethisch vertretbar ist, aber die das einfach eher verdrängen? Oder meinst du, für manche Leute ist das auch einfach okay?

00: 29:19Hilal Sezgin: Ich glaube, für die meisten Leute ist das eher nicht okay, dann verdrängen sie es bzw. es gibt hier einfach sehr viele Probleme in der Welt und dann gibt es auch so eine Konformität und dann denken viele 'naja, komm, jetzt mach ich das so' und dann gibt es auch viele bequeme Ausreden, die man sich nehmen kann, zum Beispiel, dass man - sehr beliebt - verwendet: 'Ich esse ja nur ganz wenig Fleisch.' Stimmt dann meistens gar nicht oder 'ich ess eh immer nur Bio', das stimmt dann auch meistens nicht. Aber das sind halt so Auswege, so was brauchen wir Menschen auch ... wir müssen ja ... wir wollen es uns natürlich auch ein bisschen bequem machen. Ich glaube, manchen Leuten macht es tatsächlich nichts aus, wenn man es zum Beispiel gewöhnt ist. Manche Leute erschrecken sowieso beim Anblick von Gewalt und Blut und Todesschreien mehr und andere können dann noch lachen. Also es gibt da auch Unterschiede. Und dann gibt es natürlich auch echte Sadist:innen. Da muss man auch sagen, es gibt natürlich auch Zwischenformen zwischen all dem. Also, das ist bei manchen Menschen mal so, ist mal so. Und auch manche Menschen, die eine zeitlang sehr abgebrüht sind - also übrigens auch Leute aus dem Schlachthof zum Beispiel, die müssen es ja irgendwie verdrängen können. Aber auch da gibt es immer mal wieder Situationen, wo irgendein Tier, ein Kalb, ein Ochse, der sich gewehrt hat oder der ... also die haben manchmal auch so Tränen irgendwie, oder irgendwas sich doch so gerührt hat - und dann bricht das so zusammen. Also das ist alles ein bisschen im Fluss, denke ich und hoffentlich zum Guten.

00: 30:43Sanja Middeldorf: Wir können ja noch mal kurz auch über diese Veganer:innenszene sprechen. Also da ist es ja auch oft so, dass man immer in Diskussionen gerät, zum Beispiel mit der Familie oder so. Und da ist es auch so, haben wir jetzt auch oft von Hörer:innen mitbekommen, dass Veganer:innen oft als Moralapostel betitelt werden. Und wir sprechen ja jetzt gerade über Moral und Ethik. Was würdest du sagen, sind denn Veganer:innen auf einer ethischen Ebene nicht tatsächlich auch einen Schritt weiter?

00: 31:12Hilal Sezgin: Das ist eine schwierige Frage. Sind wir weiter? Ja, wir denken, dass ja und die Bescheidenheit und die Erfahrung muss uns lehren, dass es ganz viele Sachen gibt, die wir eben dann auch nicht sehen. Ich denke, einige sind eher auf das spezialisiert und andere können es auf einem anderen Gebiet mehr erzählen. Wobei ich ehrlich gesagt auch wirklich viele Veganer:innen kenne, die auch in anderen Gerechtigkeitspunkten oder politischen Sachen sehr sensibel sind und sehr fortschrittlich. Insofern denke ich schon, dass Veganer:innen vielleicht generell hohe Ansprüche haben und auch viel nachdenken. Ich kenne sehr viele sehr nachdenkliche Veganer:innen, die eigentlich schon auf fast philosophischen Niveau, also Argumente durchspielen und auch für sich selber entwickelt haben, manche oft im Alleingang, sogar bevor es das Internet gab oder so. Andererseits Sie wissen, es gibt auch vegane Nazis und so. Das versteht man dann ja immer nicht. Es gibt auch Schwule und Lesben und People of Color in der AfD. Versteht man auch nicht. Also irgendwie: man kann da glaube ich keine allgemeine Theorie dazu machen. Was das Moralaposteltum angeht, denke ich, das Verrückte ist ja, dass wir oft das Thema gar nicht drauf bringen. Wir wollen ja einfach nur in Frieden unser Brötchen ohne alles dann essen, während die anderen sich eine Wurst reinschieben. Aber dann fragen die natürlich, die wissen das ja dann: Ja wieso isst Du keine Wurst? Aber ich esse ja nur. Dann sagen sie so viel, manchmal auch Unsinn, dass man dann irgendwann doch sagt 'Na, Entschuldigung, aber dieses das war, weißt du das und das.' Dann bringt man immer ein Argument. Eine komische Entwicklung, dass Moral zu so was geworden ist, was irgendwie nervig oder geradezu schmutzig ist. Wie gesagt, Moral ist ein Teil des menschlichen Lebens. Klar gibt es Situationen, da muss man die anderen damit verschonen vielleicht. Ich würde jetzt auch einer alten Frau, die ihren 90. Geburtstag feiert, keinen Vortrag über Butterkuchen halten. Kenne ich aber auch niemanden, der das macht. Und viele andere Kontexte, in denen man über Moral reden muss und sollte.

00: 32:58Sanja Middeldorf: Ja, und dann muss man ja eigentlich auch beide Seiten verstehen, beide Seiten reden lassen und dann ist weder der eine oder die eine noch der andere oder die andere Moralapostel. Reden wir mal so ein bisschen darüber, was so abseits dieser Tierethik ist. Also was würdest du denn sagen? Ist es auch abseits davon besser, auf Fleisch und tierische Produkte zu verzichten?

00: 33:22Hilal Sezgin: Neben den ethischen Gründen gibt es noch andere Gründe, also gesundheitliche Gründe. Aber da bin ich jetzt keine Spezialistin. Also ich würde mich da gerne jetzt zurückhalten. Ich finde es sehr plausibel, dass es gesünder ist, auf tierische Produkte zu verzichten, weil in denen sich natürlich auch etwas anreichert. Wenn man am Ende der Nahrungskette steht, nimmt natürlich auch den ganzen Mist auf, der schon vorher durchgelaufen ist. Ich glaube, es gibt viele Indizien dafür, dass pflanzliche Ernährung gesünder ist. Okay, aber lassen wir das. Dann klimatechnisch natürlich. Also die Fleisch, Milch, Eierproduktion ist ein gewaltiger Motor des Klimawandels und das liegt daran, dass ganz viel Futter und Nahrung und Energie aufgewendet werden muss, um die Tiere zu ernähren und eine gewisse Zeit lang am Leben zu halten, bis wir sie dann essen oder ihre sogenannten Produkte essen. Das ist natürlich jetzt eine riesige Verschwendung. Bei manchen sagt man, sind es sieben Kalorien, die da rein gehen, bevor wir eine Kalorie wieder rausbekommen. Bei anderen, behaupten manche Landwirte, sind es nur noch zwei. Bei anderen sind es angeblich 15. Es ist letztlich egal. Es ist doch völlig plausibel, dass man, wenn man ein anderes Lebewesen erst erzeugt und davon Millionen oder Milliarden, damit dann da irgendwann Essen hinten wieder rauskommt, dass auf dem Weg ganz viel verloren geht. Und das betrifft Landgrabbing, das betrifft Wasserverbrauch, Energieverbrauch, Methangas, alles Mögliche, also auf allen möglichen Ebenen - eigentlich können wir uns das Essen tierischer Produkte - ich finde es ein komisches Wort, weil es sind ja eigentlich Tiere - aber wie auch immer - also eigentlich auch nicht mehr leisten. Und ich denke diese Sachen kommen dann sehr gut zusammen. Manchmal ist es so, dass ein moralisches Argument spricht für eine Sache, aber Eigennutz spricht dann dagegen. Kennt man ja. Ja, ich würde das zwar gerne jemandem wegnehmen, aber es ist einfach nicht in Ordnung. Aber diesen Fall ist es sogar beides. Also es ist moralisch besser, keine Tiere zu essen und es ist für die Menschheit auch besser. Wir müssen nur einfach ein bisschen langfristiger denken.

00: 35:20Sanja Middeldorf: Ich würde sagen, das war ein richtig gutes Schlusswort, ein Schlussplädoyer. Vielen Dank schon mal für deine Zeit und vielen Dank für die tiefen Einblicke. Ich glaube, den Hörer:innen bringt das auch echt viel, dass die mal da so ein bisschen noch mal tiefer reingehen konnten jetzt mit uns. Und ich wünsche dir noch einen schönen Tag. Vielen Dank.

00: 35:38Hilal Sezgin: Danke sehr. Ich danke auch für die schönen Fragen.

00: 35:41Sanja Middeldorf: Das ist eine Frage rund um das Thema vegan. Dann schick uns gerne eine Sprachnachricht bei WhatsApp an die 015731830753. Die Nummer findest du natürlich auch in den Shownotes. Wir hören uns dann.

00: 35:53Hilal Sezgin: Beim nächsten Mal.

00: 35:55Sanja Middeldorf: Das war Studio Vegan, ein Podcast der BKK ProVita, Deutschlands erste veggiefreundliche und nachhaltige Krankenkasse.

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